Führung und Orientierung in der VUCA-Welt

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Innehalten und orientieren, dann losgehen. Und wenn unterwegs zum Ziel etwas Unerwartetes geschieht? Dann erleben Mitarbeiter wie Unternehmen auch schon einmal, dass sie an einem ganz anderen Ziel ankommen als eigentlich anvisiert. Warum wir in diesen unsteten Zeiten vor allem Führung und Orientierung brauchen, um dennoch Ziele zu erreichen, das beantwortet Jürgen Wulff in diesem Interview für das Handbuch sicherführen Ausgabe März/April 2020. Das Interview führte die Chefredakteurin Anne Sengpiel.

Sie sagen: Unternehmen brauchen Führung und Führung braucht Orientierung. Was verstehen Sie darunter?

Ich glaube, dass man im Unternehmen 3 Arten von Führung benötigt:

  • Unternehmensführung,
  • Mitarbeiterführung und
  • Selbstführung.

Unternehmensführung bedeutet für mich zunächst das Ausrichten des Unternehmens auf einen Sinn und einen Zweck und die Festlegung der übergreifenden Ziele.

Die Mitarbeiterführung liegt hauptsächlich im mittleren Management. Die Führungskräfte dort übersetzen übergreifende Ziele in Unterziele und beziehen Mitarbeiter dabei ein. Dazu braucht es die operationale Führung und soziale Orientierung.

Außerdem brauchen Mitarbeiter und Management Selbstführung. Das heißt: Mitarbeiter, die die Verantwortung für sich und andere übernehmen. Das ist bei agilen Strukturen noch viel wichtiger als in den klassischen, hierarchisch organisierten Bereichen. Wenn Sie sich einen Mitarbeiter im Großkonzern vorstellen, der sich zurücksehnt nach der guten alten Zeit, in der er sich viel mit unproduktiven Dingen nebenbei beschäftigen konnte – in einem agilen Team würde das sofort auffallen. Jeder Einzelne ist hier mehr gefordert, und das funktioniert nur mit persönlich gereiften Mitarbeitern. Für Unternehmen stellt sich die Frage: Wie gehe ich mit Mitarbeitern um, die diesen Schritt nicht hinbekommen? Ein Start-up entsteht agil, da sind die Leute motiviert, arbeiten 60 oder sogar 70 Stunden, aber in einem Unternehmen, das die agile Vorgehensweise erst einführen möchte, kann es sein, dass manche nicht mitziehen.

Warum ist Orientierung heute wichtiger denn je?

Orientierung hat 2 Bedeutungen: Zum einen die Ausrichtung. Wir orientieren uns in eine Richtung. Aber das verliert sich in einer dynamischen VUCA-Welt auch schnell wieder. Das heißt, ich muss immer mal wieder innehalten und eine Art Standortbestimmung machen. Das musss in der VUCA-Welt viel häufiger als früher passieren. Daher begeben

sich inzwischen auch viele Firmen oder Abteilungen regelmäßig in Klausur, ziehen sich beispielsweise für 3 Tage in ein schönes Hotel zurück, um sich bei einer Art Auszeit neu zu orientieren. Da werden dann sowohl Ziele, Vorgehensweisen und Strukturen diskutiert, aber auch der Umgang miteinander und die Art der Kommunikation untereinander.

Das ist wichtig, weil das Tempo sich so rasant erhöht hat?

 Ja. Veränderungen, die früher Jahrzehnte gedauert haben,  sind  heute in wenigen Monaten da. Erfindungen verbreiten sich immer schneller und revolutionieren unser Leben. Und das hat zwangsläufig auch Auswirkungen auf die Unternehmen. Dazu gibt es 3 Treiber: die Informationstechnologie, Umweltveränderungen – beispielsweise den Klimawandel – und die Biotechnologie.

Ein gutes Beispiel für den umwälzenden technologischen Fortschritt ist das iPhone, 2007 von Apple auf den Markt gebracht. Bis 2019 stieg der Absatz der weltweit verkauften Smartphones auf 1,4 Mrd. Geräte. Diese Entwicklung hatte u. a. massiven Einfluss auf den Einzelhandel. Immer mehr Käufe verlagerten sich ins Internet, was den stationären Handel enorm bedroht.

Welche Orientierungspunkte brauchen Menschen in der Arbeitswelt heute? Und wer gibt Orientierung?

 Zuerst müssen 4 grundsätzliche Fragen geklärt werden:

  1. Wo stehen wir? Beispiel: Der Markt hat sich verändert. Unsere Produkte sind nicht mehr gefragt wie früher.
  2. Wo wollen wir hin? Wir brauchen angepasste oder neue Produkte, wir wollen mit der Konkurrenz gleichziehen oder, besser noch, wieder an die
  3. Wie kommen wir dorthin? Indem wir schneller und agiler individualisierte Produkte
  4. Warum sollen wir uns auf den Weg machen? Weil unsere Kunden mit diesen Produkten produktiver oder zufriedener sind und wir weiterhin auf dem Markt bestehen können.

Die nächste Frage lautet: Wie verbindet jeder Einzelne seine persönliche Antwort auf diese Fragen mit dem, was das Unternehmen vorgibt? Nun wird es Mitarbeiter geben, die sagen: „Das ist nicht mehr mein Weg.“ Und die gehen dann. Oder das Unternehmen sagt: „Der Mitarbeiter passt nicht mehr“, und zieht Konsequenzen. Ich plädiere immer für die folgende Top-down-Argumentation, die für alle Betroffenen die wichtigsten Fragen beantwortet. Das ist einfach machbar, sehr effektiv und für die Mitarbeiter nachvollziehbar.

Ist die Orientierung in der VUCA-Welt auch einem immerwährenden Wandel unterworfen?

Ich empfehle, regelmäßig zu schauen, wann es ein Bedürfnis zu neuer Orientierung gibt, und dafür sowohl den Bauch als auch die Daten zu befragen. Die Top-Führungskräfte sollen sich beispielsweise selbst mal in den Laden stellen, die neu eingeführte Software benutzen oder online beim eigenen Unternehmen bestellen. Ich habe mal einen Manager bei einem Online-Bestellprozess im eigenen Unternehmen erlebt, der entnervt geflucht hat: „Ich will das verdammte Ding jetzt endlich haben!“

Was können Führungskräfte tun, um Orientierung für sich selbst zu erlangen und diese an ihre Teams weiterzugeben?

 Jeder Einzelne, ob Führungskraft oder Mitarbeiter, sollte sich mindestens einmal am Tag fragen: „Bin ich auf dem richtigen Weg?“ Dazu empfehle ich das von mir entwickelte Orientierungsrad. Und ich sollte mich zusätzlich  fragen: „Geht  es mir auch noch  gut dabei?“

Achtsamkeit  wird wichtig  als Teil der Orientierung. Ich hatte eine Kollegin, die immer wenn sie nicht weiterkam an die Alster ging, um den Schwänen zuzusehen und auf andere Gedanken zu kommen. Man muss ab und zu einfach die Seele baumeln lassen, weil dann das Unterbewusste weiterdenkt und wir auf neue Ideen kommen.

Wie stelle ich fest, ob ich meinen „inneren Kompass“ richtig ausgerichtet habe?

Im Grunde brauchen wir 3 Kompassnadeln. 3 Richtungen sollten übereinanderliegen: Vision, Ziel und Weg müssen zueinanderpassen. Für das Unternehmen und jeden Einzelnen. Wenn ich aufgrund der Jobanforderungen ganz viel in der Welt unterwegs bin und gleichzeitig gerade eine Familie gründen möchte, ist das vielleicht im Moment nicht meins. Hier sind Unternehmen gefordert mit Arbeitszeitmodellen, die diese

Wünsche ermöglichen. Junge Leute prüfen heute: „Bin ich mit meinen Erfahrungen und Kompetenzen am richtigen Platz, kann ich mit dem Team gut zusammenarbeiten, stimmen die organisatorischen Rahmenbedingungen im Unternehmen? Gibt es interessante Projekte, gute Karrieremöglichkeiten?“

In diesen Punkten müssen Unternehmen sehr viel flexibler sein als früher.

Sind Planung und Strategie überflüssig geworden?

Das hängt vom Unternehmen ab. In einem traditionellen Unternehmen, das z. B. Wohnhäuser baut, muss ich natürlich weiterhin planen, aber die Art der Planung ändert sich. Ich kann schon einen  5-Jahres-Plan  erstellen, muss aber damit rechnen, mehr Korrekturen als früher vornehmen zu müssen. So könnte die Anforderung auf einmal lauten, dass man die Wohnungsgrößen mit relativ geringem Aufwand verändern können soll. Wir müssen also heute davon ausgehen, dass wir Planung und die dahinterliegende Strategie häufiger anpassen müssen. Deshalb empfehle ich, Kunden und Mitarbeiter noch mehr als schon heute in die Entwicklung einzubinden.

Warum ist es wichtig, bei der Definition eines Ziels auch in die Vergangenheit zu schauen?

 Weil in der Vergangenheit ein Stück meiner Identität verborgen ist. Ein Beispiel aus der Verwaltung: Hier gab es früher Schreibkräfte. Wenn ich aus Schreibkräften jetzt Sachbearbeiter machen möchte, ist das ziemlich schwierig. Denn Schreibkräfte haben eine andere Identität. Das Gleiche gilt für Abteilungen, Bereiche und Unternehmen: Wenn die aktuelle Entwicklung mit der Historie nicht zusammenpasst, wird das in der Zukunft schwierig. Denn ich muss die alte Rolle integrieren und die alte Identität in eine neue überführen. Die Identität ist ja sehr hoch oben im Wertesystem eines Unternehmens angesiedelt – die wechselt man nicht einfach aus. Zukunft braucht Herkunft. Wenn ich meine Wurzeln vernachlässige, erreiche ich meine Ziele nicht.

Sie setzen Kapitel 7 ein Zitat Diderots voran: „Wenn man einen falschen Weg einschlägt, verirrt man sich umso mehr, je schneller man geht.“ Ein Plädoyer für die Langsamkeit?

 Als Geschäftsführender Gesellschafter oder Shareholder will ich natürlich in erster Linie Rendite haben. Die Langsamkeit interessiert hier eher weniger. Ich glaube trotzdem, dass wir unterschiedliche Arbeitstempi brauchen: Es gibt Phasen, in denen es schnell gehen muss – im agilen Arbeiten nennt man das Sprint –, aber es muss auch mal eine Phase der 80-%-Belastung geben, um Luft zu holen. Also auch mal zu den Schwänen gehen. So verhindern Unternehmen, dass Mitarbeiter ausbrennen.

Wie gelingt es Führungskräften und Unternehmenslenkern zu erkennen, wann sie alte Orientierungsmuster verändern sollten?

Indikatoren, dass meine Orientierungsmuster nicht mehr passen, sind vor allem Umsatz- oder Gewinneinbußen. Aber auch wenn Sand im Getriebe ist – Mitarbeiter mit Widerstand reagieren, Projekte sich verzögern oder zu viele  Kunden  sich beschweren. Das sind typische Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmt und man sich als Führungskraft oder sogar als gesamtes Unternehmen neu orientieren sollte.

 

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